- Irland: Die irische Frage \(bis 1922\)
- Irland: Die irische Frage (bis 1922)Die Entschiedenheit, mit der die englischen Regierungen seit dem ausgehenden Mittelalter an Irland festhielten, zeigt den hohen Stellenwert, den sie der Herrschaft über die Grüne Insel beimaßen. Sie bot der Krone nicht nur eine Einnahmequelle, die konfiszierten irischen Ländereien dienten zudem als Entlohnung regierungstreuer Angehöriger der gentry und nobility für geleistete Dienste. Dass die neuen Grundherren im Gegenzug für eine Festigung der englischen Herrschaft und Sicherung der Westflanke Britanniens sorgen würden, wurde in London als selbstverständlich vorausgesetzt. Darüber hinaus taugte die Grüne Insel trefflich als Testgebiet zur Erprobung bestimmter kolonialer Vorgehensweisen.Seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert geriet Irland öfter in das Blickfeld englandfeindlicher Mächte, die hofften, hier einen Hebel zur Beseitigung des lästigen Konkurrenten im Ringen um globalen Einfluss gefunden zu haben. 1798 konnten zwei von irischen Rebellen initiierte französische Landungsversuche abgewehrt werden.Das Vereinigte KönigreichAllerdings hatte dieser Aufstand der britischen Regierung deutlich gezeigt, welchen Stellenwert eine endgültige Befriedung Irlands im Kontext der imperialen Politik besaß. Gerade angesichts des Abfalls der nordamerikanischen Kolonien erhielt der Verbleib Irlands im britischen Empire auch eine erhebliche symbolische Bedeutung. Die Verschmelzung des britischen mit dem irischen Königreich zu einer Union im Jahre 1801 war also primär ein Akt imperialer Räson, keine weitere Zwangsmaßnahme zur Unterdrückung irischer Unabhängigkeitsbestrebungen. Als Gegenleistung für die Zustimmung der irischen Katholiken hatte Premierminister William Pitt der Jüngere ihnen die völlige Gleichberechtigung in Aussicht gestellt. Das bedeutete zugleich die Bereitschaft zur endgültigen Beseitigung der Zwangsgesetze, mit denen die protestantischen Statthalter in Irland seit Ende des 17. Jahrhunderts versucht hatten, den katholischen Widerstand gegen ihre Herrschaft zu brechen. Schon deshalb konnten sich viele irische Protestanten nur schwer mit dem Gedanken an die katholische Gleichberechtigung anfreunden. Ihre Sorgen waren zunächst unbegründet, denn König Georg III. weigerte sich trotz der Rücktrittsdrohung seines Premierministers, diese Gleichberechtigung umzusetzen. Seiner Meinung nach sollte jede Person, die ein Staatsamt anstrebe, Mitglied der Staatskirche sein.Die katholische GleichberechtigungTrotz dieses Wortbruchs kam es kaum zu Gewalttätigkeiten, da die Organisationsstruktur der irischen Aufständischen seit der Rebellion von 1798 zerschlagen war. Die irischen Katholiken strebten die Gleichberechtigung vielmehr auf dem konstitutionellen Wege an. Dass dieser Weg dann in der Tat fast vier Jahrzehnte lang beschritten wurde, ist das Verdienst Daniel O'Connells, eines der prominentesten Wortführer der irischen Katholiken in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch die Gründung der Catholic Association 1823 gab es eine Interessenvertretung der irischen Katholiken, in der neben Grundbesitzern, wohlhabenden Bürgern und Handwerkern auch die zahlreichen unterprivilegierten Klein- und Kleinstpächter vertreten waren. Für den Zusammenhalt des Verbandes sorgte der katholische Klerus. So sammelten in der Regel die örtlichen Geistlichen im Rahmen der Gottesdienste die Mitgliedsbeiträge ein, die auch dazu dienten, katholische Landpächter vor Strafverfolgung zu schützen.Bei den Parlamentswahlen 1826 hatte die Gesellschaft erstmals Empfehlungen für Kandidaten ausgesprochen, deren politische Ziele denen der irischen Katholiken nahe standen, anstatt wie bisher den Kandidaten des Grundherren zu wählen. Zwei Jahre später dann, als in der Grafschaft Clare Nachwahlen zum Unterhaus anstanden, kandidierte nach anfänglichem Zögern O'Connell selbst — schließlich existierte kein Gesetz, das die Kandidatur von Katholiken untersagt hätte. O'Connell ging als deutlicher Sieger aus den Wahlen hervor; die Grafschaft Clare hatte allerdings mit ihm einen Unterhausabgeordneten gewählt, der sein Mandat nicht wahrnehmen konnte, weil er als Katholik keinen Treueid auf die britische Krone ablegen durfte. Aber die Symbolkraft durfte die Londoner Regierung nicht übersehen. Die strikte konstitutionelle Politik O'Connells hatte sich ausgezahlt, seine Wahl bewirkte in London einen politischen Kurswechsel, an dessen Ende am 13. April 1829 der Catholic Emancipation Act in Kraft trat. Dieses Gesetz verschaffte den irischen Katholiken die lang ersehnte Gleichberechtigung, sieht man einmal davon ab, dass ihnen auch weiterhin die Vizekönigswürde sowie die britische und irische Lordkanzlerschaft verwehrt blieb.Die Große Hungersnot und ihre FolgenIrland war um 1840 mit über 8 Millionen Einwohnern ungewöhnlich dicht besiedelt — vermutlich als Folge der relativ leichten Verfügbarkeit zweier grundlegender Überlebensvoraussetzungen: der problemlosen Wärmeerzeugung durch Torf und der Nutzung der Kartoffel als Grund- und Hauptnahrungsmittel gerade der Klein- und Kleinstpächter. Etwa die Hälfte der irischen Bevölkerung lebte zu dieser Zeit am Rande des Existenzminimums — ein Ausfall der Kartoffelernte musste also gerade für sie verheerende Folgen haben.Der Katastrophenfall trat im Herbst 1845 ein, als die Kartoffelernte ganz Irlands von der Kartoffelfäule befallen und vernichtet wurde. Das irische Fürsorgewesen erwies sich als ungeeignet zur Bewältigung einer solchen Krise, da es die direkte Versorgung der notleidenden Bevölkerung untersagte und lediglich die Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erlaubte. Ein weiterer Ernteausfall im Folgejahr erzwang eine Änderung des Verfahrens zugunsten direkter Armenspeisung, deren Kosten von Kaufleuten und Grundherren getragen werden sollten. Doch diese dachten nicht daran, sich stärker als bisher an den Versorgungskosten zu beteiligen — zumal sie aufgrund ausgebliebener Pachtzahlungen in der Regel bereits erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen mussten. Viele zahlungsunfähige Pächter wurden in dieser Zeit in durchaus rechtskonformer Weise von ihrem Land vertrieben, wobei es mancherorts zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam.Eine erste Bilanz der Hungersnot der Jahre 1845 bis 1850 zeigte ein erschütterndes Ergebnis: Über eine Million Menschen war dem Hunger zum Opfer gefallen, eine Million Iren hatte das Land verlassen, und die Anzahl der Fürsorgeempfänger lag ebenfalls bei einer Million. Die Hungersnot hatte die Schwächen der traditionellen Besitzverhältnisse schonungslos offen gelegt, sie hatte darüber hinaus den irischen Nationalisten reichlich Argumente gegen die angloirische Union geliefert, wenngleich diese Erkenntnis noch keinen Aufschluss darüber gibt, ob eine eigenverantwortlich handelnde Dubliner Regierung besser mit diesen Problemen fertig geworden wäre.»Young Ireland« — Das Junge IrlandNach den Erfahrungen der Hungerkatastrophe rief der Katholik Charles Gavan Duffy, der bereits 1842 mit dem Protestanten Thomas Davis die Zeitschrift »The Nation«, das Sprachrohr der Young Irelanders, gegründet hatte, 1850 mit der Tenant Right League eine Organisation ins Leben, die sich um eine Verbesserung der Rechtslage von Pächtern und Landarbeitern bemühte. Der Tenant Right League war jedoch kein großer Erfolg beschieden und sie löste sich 1859 wieder auf.Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Scheiterns der Tenant Right League hatten sich andere Anhänger des Young Ireland 1858 zur Irish Republican Brotherhood zusammengeschlossen — im selben Jahr, als sich in New York irische Emigranten als Fenian Movement konstituierten. Die republikanische Bruderschaft bekannte sich wie die Fenier zu der 1848 von Thomas Davis formulierten Doktrin, die besagte, dass Großbritannien Irland niemals die Unabhängigkeit gewähren würde, es sei denn, es würde durch militärische Gewalt dazu gezwungen. In den Sechzigerjahren bildeten sie ein engmaschiges Netz lokaler Gruppen, die als eidgebundene Geheimgesellschaften strukturiert waren. Um 1865 verfügte die Bruderschaft nicht nur über Tausende eingeschriebener Mitglieder in Irland, darüber hinaus hatten sich Partnerbünde in allen anderen Teilen des britischen Weltreiches gebildet. Durch gezielte Unterwanderung der Organisation war die britische Regierung aber bestens über den 1867 geplanten Aufstand der Bruderschaft informiert, dessen Anführer entweder verhaftet wurden oder ins Ausland flüchten mussten.Home RuleDie ungelöste irische Frage beschäftigte seit 1868 auch den liberalen Premierminister William Gladstone. Um Irland »Gerechtigkeit und Frieden« zu bringen, war er bereit, die Strukturen der angloirischen Union auf Defizite zu überprüfen und sie gegebenenfalls zugunsten von devolution, also der Übertragung eines Bündels politischer Rechte an eine neu zu schaffende irische Exekutive und Legislative, aufzulösen.Auf Initiative des wohl prominentesten irischen Rechtsanwalts der Zeit, des Protestanten und ehemaligen Unionisten Isaac Butt, wurde im Jahre 1870 die Home Government Association als eine Art Widerlager der irlandpolitischen Zielsetzung Gladstones ins Leben gerufen. Vier Jahre später gewann die Home Rule Party, wie sie sich fortan nannte, bei den Unterhauswahlen mehr als die Hälfte aller irischen Unterhausmandate. Der Erwartungsdruck der Wählerschaft wuchs, ohne dass Butt aber nennenswerte Erfolge aufweisen konnte. 1877 musste er daher die Führung der Partei und der Parlamentsfraktion an Charles Stewart Parnell abgeben.Der neue Parteiführer entstammte einer protestantischen Grundbesitzerfamilie und zählte zum radikalen Flügel seiner Partei. Von vornherein verknüpfte er die Home-Rule-Frage mit der seit den Fünfzigerjahren überfälligen Landreform. Dazu übernahm er 1879 den Vorsitz der Irish National Land League, die auch ein Forum zur Erörterung von Fragen bieten wollte, die die irische Unabhängigkeit betrafen. Der Landliga gelang es binnen weniger Monate durch Boykottmaßnahmen gegen die Pächter, die Diskussion über eine Reform der Besitzverhältnisse anzuregen. 1881 kam es zur Verständigung: Gladstone versprach die zügige Durchführung der Reformen, Parnell garantierte als Gegenleistung die Verfassungskonformität der künftigen Ligaarbeit. 1886 legte Gladstone seinen ersten Home-Rule-Gesetzentwurf dem Parlament zur Abstimmung vor, der allerdings bereits im Unterhaus scheiterte. Die Landreform dagegen wurde 1903 mit dem Wyndham-Gesetz abgeschlossen. Die beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sind folglich von einer bemerkenswerten Ruhe und Stabilität geprägt.Diese Phase schuf Raum für die Entstehung anderer Formen des irischen Nationalismus, die man heute unter dem Schlagwort Gaelic Revival zusammenfasst. Sie bezeichnet eine gesellschaftliche Bewegung, die sich in Kunst, Literatur oder Sport der Rückbesinnung auf die spezifisch keltisch-irischen Wurzeln und Traditionen verpflichtet fühlte und diese neu im Bewusstsein ihrer Landsleute verankern wollte. Ihre Kulturarbeit schuf die Grundlagen für jenes ausgeprägte irische Nationalbewusstsein, ohne das der Unabhängigkeitskampf des frühen 20. Jahrhunderts nicht erklärt werden kann.Dieser entzündete sich letztlich am dritten Home-Rule-Entwurf, den die liberale Regierung Asquith 1912 dem Parlament zur Abstimmung vorlegte, denn vor dem Hintergrund der Home-Rule-Diskussion hatte sich in unionistischen Kreisen eine Oppositionsbewegung formiert. Nach der Annahme des Gesetzes rief der Vorsitzende des Ulster Unionist Council, Sir Edward Carson, zur Gründung einer bewaffneten paramilitärischen Truppe, der Ulster Volunteer Force, auf, um die Einführung der Home Rule notfalls mit Gewalt zu verhindern. Das wurde von den jahrzehntelang strikt konstitutionellen irischen Nationalisten als klare Kampfansage empfunden. Ihre Irish Volunteer Force war zunächst als Schutztruppe vor den Ulster Volunteers gedacht. Sie entwickelte sich indes rasch zum Kern einer Nationalbewegung, die sich nicht mehr mit einem national selbstverwalteten Irland als Dominion im britischen Weltreich zufrieden geben wollte, sondern sich der Schaffung einer völlig unabhängigen Republik Irland verpflichtet fühlte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schien dieses Ziel greifbar nahe, denn ein Großteil der bislang auf irischem Boden stationierten königlichen Truppen kämpfte nun an den kontinentaleuropäischen Fronten. Wenn der Aufstand, der am Ostermontag des Jahres 1916 mit der Proklamation der Republik Irland auf den Stufen des Dubliner Hauptpostamts eingeleitet wurde, dennoch eher kläglich scheiterte, so ist das auf eine Reihe von Missverständnissen und Fehleinschätzungen bei der Vorbereitung und der Durchführung der Rebellion zurückzuführen. In der folgenden Zeit voller blutiger Auseinandersetzungen entwickelte sich die separatistische Partei Sinn Féin unter Eamon de Valera zur Trägerin der Unabhängigkeitsbewegung. Es sollte aber noch bis 1921 dauern, bis im Anglo-Irischen Vertrag immerhin 26 von 32 irischen Grafschaften als Irish Free State in die Teilunabhängigkeit eines Dominion im britischen Weltreich entlassen wurden, während die sechs unionistischen Grafschaften im irischen Nordosten das erhielten, wogegen sie sich seit 1912 so vehement ausgesprochen hatten — die Home Rule, und zwar als Provinz im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland.Dr. habil. Jürgen Elvert, KielAlter, Peter: Die irische Nationalbewegung zwischen Parlament und Revolution. Der konstitutionelle Nationalismus in Irland 1880-1918. München u. a. 1971.Elvert, Jürgen: Geschichte Irlands. München 21996.Hoppen, Karl Theodore: Ireland since 1800. Conflict and conformity. London u. a. 1989.Nationalism and popular protest in Ireland, herausgegeben von C. H. E. Philpin. Cambridge u. a. 1987.
Universal-Lexikon. 2012.